Die vielen Gesichter von John Paul Echeverri
Bei Between Bridges in Berlin dient eine Retrospektive des Werks des verstorbenen Künstlers als Denkmal für sein zu kurzes Leben
Sie steigen aus dem Flugzeug, machen es sich in Ihrem stärkehaltigen Hotelbett bequem, schauen auf Ihr sterbendes Telefon – es ist spät, Sie haben ein wenig Jetlag – und öffnen schließlich Grindr. Für manche Männer, die sich in einer neuen Stadt wiederfinden, ist es die erste Aufgabe. Ebenso vertraut, besonders an Orten, an denen Homosexualität verboten oder verpönt ist, ist das endlose Scrollen von Profilbildern: einfache Umrisse der menschlichen Figur, die zusammen ein düsteres Raster von Schattenliebhabern bilden.
Diese leeren Profile sind Gegenstand von Juan Pablo Echeverris futuroSEXtraños (2016) – 60 Tintenstrahldrucke dunkler Figuren, alle vom Künstler selbst modelliert, in denen das Standardbild des Benutzers durch Zeichen einer unbändigen Persönlichkeit unterbrochen wird. Unter den Figuren sieht man große, voluminöse Haare, jemanden mit Baskenmütze, einen anderen mit großen Schulterpolstern und wieder einen mit einer Halskette mit Stacheln – alles Elemente, die die wilden Identitäten verdeutlichen, die hinter den von der Familie, dem Staat und manchmal sogar von Ihnen selbst auferlegten Schleiern lautstark schreien. Wie so viele von Echeverris Werken ist die Serie ein Zeugnis einer unvergänglichen queeren Sensibilität, die auch in der Dunkelheit nach einer Möglichkeit sucht, Unterschiede zur Schau zu stellen.
futuroSEXtraños ist Teil von Echeverris großer Ausstellung „Identidad Perdida“ (Verlorene Identität) in Berlin Between Bridges, einer Hälfte einer zweiteiligen Quasi-Umfrage, die bei James Fuentes in New York fortgesetzt wird. Von konzeptioneller Fotografie über Skulptur bis hin zu Film – die Arbeiten bei Between Bridges umfassen fast 25 Jahre. Organisiert von „einigen der Menschen, die ihn vermissen“, heißt es in der Pressemitteilung der Ausstellung, ist die Ausstellung eine großartige Hommage an das Spektrum dieses in Bogotá geborenen Künstlers und ein treffendes Denkmal für sein zu kurzes Leben. (Echeverri starb 2022 im Alter von 43 Jahren an Malaria.)
Echeverri ist vielleicht am besten für „miss fotojapón“ (Miss Photo Japan, 1998–2022) bekannt, eine Werkserie mit 8.000 Passfotos, eines für jeden Tag jedes Jahres vom Beginn des Projekts bis zu seinem plötzlichen Ende. In jedem Bild – hier präsentiert in zwei großen Rastern, die auf einem MDF-Kastenrahmen montiert sind – können Sie einen Blick auf die Bandbreite von Echeverris wechselnder Selbstdarstellung während seiner Reisen und Aufenthalte zu Hause werfen: seinen völlig unterschiedlichen Stil, seine unterschiedlichen Haarschnitte (gefärbt, rasiert, Irokesenschnitt). und natürlich sein alterndes Gesicht in zwei Jahrzehnten Selbstdokumentation.
Da die Porträts eher zufällig und nicht chronologisch angeordnet sind, kann die Wirkung des Scannens so vieler Echeverris verwirrend sein. Wie so manches alltägliche Projekt lebt „miss fotojapón“ von den kleinen Revolten gegen die Starrheit seiner Grundidee, dem gelegentlichen Ersatz für die allgemeinere gesellschaftliche Standardisierung, der sich dieser schlaue Künstler so oft widersetzt. Manchmal verbirgt Echeverri sein Gesicht hinter einer Maske, einer heruntergelassenen Mütze oder der buschigen Kapuze eines Parkas: Selbst das enthusiastischste Überwachungsobjekt kann einer unpersönlichen Kamera überdrüssig werden. Du fühlst mit ihm.
Auf den Leinwänden im Erdgeschoss der Galerie wurden Ausschnitte aus „Around the World in 80 Gays“ (2007–15) in Endlosschleife gezeigt, einer Reihe von Musikvideos – natürlich mit Echeverri selbst in der Hauptrolle –, die der Künstler für die Top-Chartsongs in jedem Land, das er besuchte, drehte. Wieder einmal ist es nicht der Künstler, den man auf der Leinwand sieht, sondern eine Vielzahl theatralischer, stilisierter Persönlichkeiten, die er geschaffen hat. Was ich an Echeverris Werk liebe, ist seine Überschwänglichkeit, seine Ungenauigkeit und Unentschlossenheit. Diese beiden letztgenannten Qualitäten öffnen das Werk für die Möglichkeit, dass das Prisma des Selbst die herrschenden Normen der Identität sprengen könnte – etwas, das einst versprochen wurde, bevor das Reality-Fernsehen seinen donnernden Abenteuergeist stahl. Doch hier war ein Künstler, der sich scheinbar nie auf eine bestimmte Vorstellung davon einließ, wie er leben oder wer er sein sollte – eine Lektion für jeden, dem die Person im Spiegel langweilig geworden ist.
Juan Pablo Echeverris „Lost Identity“ ist bis zum 29. Juli bei Between Bridges in Berlin zu sehen.
Hauptbild: Juan Pablo Echeverri, MUTILady, 2003/2023, Offsetdruck, 84×59 cm. Mit freundlicher Genehmigung: der Nachlass von John Paul Echeverri
Andrew Durbin ist Chefredakteur von Frieze. Er lebt in London, Großbritannien.
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